Radwege-Stopp: Erschüttertes Vertrauen, Kommunikationschaos, ungeklärte rechtliche und haushalterische Fragen

PRESSEMITTEILUNG

24.06.23 – von Oliver Schrouffenegger und weitere Grüne Bezirksstadträt*innen sowie den Landesvorsitzenden –

Liebe Freund*innen, 

Zu dem erklärten Stopp des Radwegausbaus hat unser Stadtrat Oliver Schruoffeneger heute gemeinsam mit anderen Grünen Bezirksstadträt*innen und dem Landesvorsitzenden folgende Pressemitteilung herausgegeben:

PRESSEMITTEILUNG

Angesichts des erklärten Radwege-Stopps erklären Philmon Ghirmai, Landesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen Berlin und Grüne Bezirksstadträt*innen – Annika Gerold (Friedrichshain-Kreuzberg), Saskia Ellenbeck (Tempelhof-Schöneberg), Jochen Biedermann (Neukölln), Dr. Claudia Leistner (Treptow Köpenick), Filiz Keküllüoğlu (Lichtenberg), Dr. Almut Neumann (Mitte), Urban Aykal (Steglitz-Zehlendorf) und Oliver Schruoffeneger (Charlottenburg-Wilmersdorf):

Wir sind entsetzt über das aktuelle Gebaren der Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt. Täglich erreichen die Bezirksverwaltungen neue E-Mails und Informationen mit teils widersprüchlichen Informationen, die immer neue Fragen aufwerfen. Antworten bekommen wir hingegen keine.

Berlin ist auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Land und Bezirken angewiesen. Trotz knapper Ressourcen der Berliner Verwaltung wurden bislang wichtige Verkehrsprojekte auf den Weg gebracht, BVV-Beschlüsse gemeinsam mit der bisherigen SenUMVK in Angriff genommen, verbunden mit dem Ziel, Verkehrssicherheit für Radfahrende und Fußgänger*innen in Berlin entscheidend zu verbessern. Dazu gehören leistungsstarke und sichere Radwege auf den Hauptverkehrsstraßen und Fahrradstraßen im Nebennetz. Alle Projekte dienen der Vision Zero und der Schulwegsicherheit. All das wird nun von der neuen für Mobilität zuständigen Senatorin handstreichartig ausgesetzt, ohne vorherige Abstimmungen, ohne belastbare Rechtsgrundlagen und mit chaotischer Kommunikation.

Planungen basieren auf rechtlichen Vorschriften und Beteiligungsprozessen

In diesem Jahr sollten laut Radverkehrsplan 60 Kilometer Radverkehrsinfrastruktur auf die Straße gebracht werden. Alle Planungen dazu basieren auf einem komplexen Abwägungsprozess gemäß der Richtlinien der Straßenverkehrsordnung, der Empfehlungen für Radverkehrsanlagen der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen der Richtlinie zur Anlage von Stadtstraßen, dem Mobilitätsgesetz und dem Radverkehrsplan als verbindliche Rechtsverordnung sowie der erst kürzlich in Kraft getretenen Ausführungsvorschrift Konfliktbewältigung. In vielen Projekten gab es Bürgerbeteiligung, Beratungen und Abwägungen in Fachausschüssen. Wir Grüne, die in den Bezirken Verantwortung für die Verkehrssicherheit von zahllosen Menschen tragen, sind entsetzt darüber, dass alle diese fachlichen Prozesse nun von der Senatorin jäh gestoppt wurden. Das ist ein Schlag ins Gesicht der Mitarbeiter*innen und aller beteiligter Akteur*innen. Das Vorgehen gefährdet den dringend erforderlichen Ausbau sicherer Radwege und frustriert die Beschäftigten in den Verwaltungen, die mit größtem Engagement Verbesserungen für die Verkehrssicherheit umsetzen.

Ein Anhalten bisheriger Planungen oder schon bestehender Anordnungen ist rechtlich fragwürdig, denn oben genannte Gesetze und Richtlinien gelten weiterhin. Eine pauschale Vorgabe von maximal zehn Parkplätzen, die pro 500 Meter Straße umgewandelt werden dürfen, ist unfachlich und hat mit einem straßenverkehrsbehördlich fundierten Abwägungsprozess nichts zu tun. Im Gegenteil: Die pauschalen Vorgaben widersprechen dem Erfordernis, für eine rechtssichere Anordnung von Verkehrsinfrastruktur nach nachvollziehbaren, fachlichen Kriterien differenziert abzuwägen und wirken schablonenhaft.

Planungsunsicherheit und Kommunikationschaos

Wir sind zudem entsetzt über die Art der Kommunikation. Eine lapidare E-Mail der Senatsverwaltung an eine Untereinheit im bezirklichen Straßen- und Grünflächenamt ist kein angemessener Weg, um über weitreichende Entscheidungen zu informieren. Auch eine Pressemitteilung, die mehr Fragen produziert als Antworten gibt, ist das Gegenteil von einem Miteinander zwischen Senat und Bezirken. Vorgestern eilig geschriebene Abfragen der Senatsverwaltung an die Bezirke, welche Projekte es denn betreffen würde, offenbaren ein chaotisches und planloses Vorgehen. Wir haben der Senatorin vorgeschlagenen, den für den 26.6. seit langem geplanten „Kennenlern-Termin" mit den fachlich zuständigen Stadträt*innen zu nutzen, um diese Thematik ausführlich als wichtigsten Tagesordnungspunkt miteinander zu besprechen. Dies wurde mit dem Hinweis abgetan, es unter „Aktuelles oder Verschiedenes" aufzurufen. Die Senatorin scheint das Ausmaß ihrer Entscheidung noch immer nicht vollumfänglich erfasst zu haben.

Fördergelder und Haushaltsrisiken

Mit dem jüngsten Schreiben der Senatsverwaltung, in dem die Rücknahme aller Finanzierungszusagen für alle Projekte nach den in der Pressemitteilung der SenMVKU genannten Kriterien verlautbart wird, ist eine sachgemäße Jahresplanung in der Straßen- und Grünflächenämtern im Land Berlin nicht mehr möglich. Zu den gestoppten Vorhaben gehören explizit auch Projekte, bei denen eine Bundesförderung vorliegt und nur ein geringer Eigenanteil durch das Land Berlin getragen werden muss. Wir befinden uns mitten im Jahr, die Bezirksverwaltungen müssen sich darauf verlassen können, dass Finanzierungszusagen des Senats nicht willkürlich ausgesetzt werden – völlig unklar auf welcher Rechtsgrundlage. Insbesondere Fördermittel in mehrstelliger Millionenhöhe werden verfallen, wenn die Projekte nicht zeitnah ausgeschrieben werden. Die Kapazitäten der Baufirmen sind in der zweiten Jahreshälfte stark ausgelastet.

Dass all diese Fragestellungen weder mit den betroffenen Bezirken erörtert noch im Nachhinein Fragen beantwortet werden, können wir nicht nachvollziehen. Durch dieses unkoordinierte Vorgehen werden weitreichende Planungsprozesse torpediert. Das ist ein schlechter Regierungsstil und unprofessionelles Verwaltungshandeln. So lässt sich keine zukunftsfähige Stadtpolitik gestalten. Einen von oben verordneten Stillstand können wir uns schlichtweg nicht leisten. Jeder gestoppte Radweg verhindert schnelle Verbesserungen für Verkehrssicherheit und gefährdet so gerade die schwächsten Verkehrsteilnehmer*innen.